Introduction
Im Jahr 2174 steht die USA an der Schwelle einer Epoche, die einst nur in fiebrigen Träumen existierte. Lebensversicherungen haben ihren Zweck verloren, denn die Sterblichkeit selbst wurde von der Wissenschaft überwunden. Der Bundesrat für Bevölkerung, zuständig für Ressourcen- und sozialer Stabilität, hat einen strikten Tauschmechanismus eingeführt: Jede neue Geburt erfordert einen registrierten Abschied. Bürger schreiten durch glänzende Türme aus Chrom und Glas, unter Neonpaneelen, die Namen und Daten flimmernd anzeigen – ein endloses Förderband von Ankünften und Abschieden. Seit Jahrzehnten ist kein natürlicher Tod mehr verzeichnet; das Gleichgewicht wird allein durch Freiwillige gewahrt, die ihr eigenes Ende terminieren, damit neues Leben beginnen kann. Dr. Mara Ellison, die das Register beaufsichtigt, erlebt täglich die Kollision von Hoffnung und Furcht. Eltern mit Ultraschallbildern stehen neben denen, die ihrem letzten Akt bereits zugestimmt haben. Jede Unterschrift tauscht einen Herzschlag aus – Kind gegen Bürger – in einem System, das ewiges Leben ohne unendliche Nachfrage sichern soll. Mara bewegt sich mit klinischer Ruhe durch diese Welt, doch in ihrem Inneren durchlebt sie den ersten Säugling, den sie berührte, während der Empfänger seinen Weg in die Vergessenheit unterzeichnete. Dieser zarte Moment, eingefroren in der Logik des Registers, verfolgt sie und erinnert sie daran, dass ein System, das retten soll, auch alles stehlen kann, was das Leben heilig macht.
Geburt und Gleichgewicht
Dr. Mara Ellison trifft lange vor Tagesanbruch im Lebenszuteilungszentrum ein, begrüßt vom leisen Summen der Klimaanlagen und dem sanften Leuchten der Registrierungsbildschirme. Sie betritt die Haupthalle – einen gewaltigen, kathedralenartigen Raum, in dem Familien, Spender und Beamte in einem feierlichen Ballett zusammenkommen. Reihen digitaler Terminals zeigen bevorstehende Abschiede, die künftigen Geburten zugeordnet sind. Ein Paar, das sein erstes Kind erwartet, steht an einem Terminal und zittert, während das System verzweifelt versucht, einen passenden Abschied auszulösen. Sie beobachtet, wie auf den Bildschirmen „No Match Found“ aufblinkt und das Paar sich panisch und verzweifelt ansieht.

Zwischen stählernen Säulen hängen Anschlagtafeln mit Profilen von Freiwilligen: Alter, Beruf, persönliche Botschaften. Manche vermerken letzte Wünsche – „Pflanzt einen Wald in meinem Namen“, „Widme mein Ende der Kunst“. Andere schreiben schlicht: „Ich habe gelebt; lasst ein anderes Leben beginnen.“ Als das Paar schließlich auf der Warteliste erscheint, flehen sie um Gnade in Stimmen, die wie bröckelnder Stein klingen. Mara tritt vor, ihr instinktives Mitgefühl ringt mit ihrem Protokoll. Das System bietet eine Fristverlängerung – 48 Stunden, um einen Freiwilligen zu finden.
Draußen werfen die grellen Leuchten lange Schatten, als Mara das Paar in den Wartebereich begleitet. Sie hört gedämpfte Stimmen ehemaliger Empfänger, die heute selbst als Spender fungieren: Ein Vater von zwei Kindern meldet sich jedes Quartal, eine pensionierte Lehrerin unterschreibt ein weiteres Mal. Jede Wohltat, jedes Opfer wird im digitalen Register festgehalten und verewigt. Dieses Verzeichnis von Leben und Tod bindet die Gesellschaft in ein gemeinsames Bündnis: Keiner lebt, wenn nicht jemand anders bereit ist zu gehen. Obwohl die Logik unumstößlich erscheint, spürt Mara das Gewicht im Moment des Innehaltens – der tragische Punkt zwischen „leben“ und „sterben“.
Registrierung und Widerstand
Gerüchte über die Reclamation Front wehen wie steriler Staub durch die Gänge. Sabotagepläne, Hackerangriffe auf die Registrierungsterminals, das Befreien von Daten, die Neuschreibung des Gesetzes – solche Erzählungen gelten zunächst als Randfantasie, bis Mara versteckte Botschaften in den Profilen der Freiwilligen entdeckt: kryptische Aufrufe zu Gleichheit, zu einer Welt, die nicht durch erzwungene Verglasung ihrer Alten gefesselt ist. Sie liest zum ersten Mal in einem Profil mit dem Status „Freiwilliger ausstehend“ den Satz: „Wenn die Waage kippt, fordern wir unser Recht ein, selbst zu leben und zu sterben.“

Neugierig und beunruhigt folgt Mara den Spuren durch gesicherte Kanäle bis zu einem verlassenen U-Bahn-Depot, wo sich die Front heimlich trifft. Mit einem Zugangscode betritt sie einen schwach beleuchteten Raum, in dem Männer und Frauen um improvisierte Tische kauern, von Kerzenlicht erleuchtet und fest entschlossen. Sie sprechen von einem Untergrundarchiv unerfasster Geburten – Kinder, die dem Register entgehen und durch digitale Ritzen schlüpfen. Ihr Plan: Neugeborene aus den Regierungszentren schmuggeln und so die zerbrechliche Kalkulation des Bevölkerungsrats stören.
Während Mara zuhört, gerät sie in einen Konflikt zwischen ihrem Amtseid und dem wachsenden Glauben an das Recht auf freie Entscheidung. Ein Zusammenbruch der staatlichen Balance könnte Hunger und Konflikte heraufbeschwören. Doch zuzusehen, wie Menschen den Tod planen, um anderen das Leben zu ermöglichen, fühlt sich unerträglich grausam an. Sie erkennt, dass sie am Wendepunkt einer bevorstehenden Revolution steht. Mit der Offenbarung der Front rückt die Entscheidung näher: Verrät sie ihre Position und schließt sich dem Widerstand an – oder hält sie an der Bürokratie fest, die Stabilität erkauft hat um den Preis persönlicher Freiheiten und heiliger Abschiede.
Die letzte Wahl
Zurück im Zentrum wartet das Paar mit Drillingen weiter auf eine Lösung. Ihre Frist ist abgelaufen. Vor drei neuen Leben – und ohne registrierte Abschiede – bleiben ihnen weniger als sechzig Minuten, um Freiwillige zu finden. Mara sieht zu, wie der Vater auf die Knie sackt, die Hände zum Flehen gefaltet. Die Mutter wiegt ihren Bauch, während Tränen lautlos ihre Wangen hinabfließen. Sie wendet sich an Mara: „Bitte, Doktorin, rettet unsere Kinder. Wir tun, was immer nötig ist.“

Mara blickt auf ihr Datenpad. Das Register bietet eine letzte Option: Ein einziger Freiwilliger kann sein Leben für alle drei Geburten opfern. Nur einer wird gebraucht – doch wer? Die Reclamation Front könnte falsche Spender liefern, Geistereinträge, die am nächsten Tag verschwinden – mit dem Risiko, eine Systemprüfung auszulösen, die den kompletten Apparat zum Einsturz brächte. Fällt das Register auseinander, stünde die gesamte Stadt am Rande des Paniks. Unterlässt sie jegliches Eingreifen, werden drei unschuldige Kinder nie atmen dürfen.
Mit klopfendem Herzen legt Mara ihren Finger auf das Bestätigungssymbol neben ihrem eigenen Namen. In diesem Augenblick entscheidet sie sich für den Gesetzesbruch, dem sie gedient hat. Sie gibt den Code für drei gefälschte Einträge ein und leitet die digitalen Spuren auf Phantomspender im Ausland um. Die Bildschirme blinken grün: „Drillinge genehmigt – Registrierung abgeschlossen.“ Das Paar bricht in weinende Erleichterung aus, umarmt sich, während die Kinder zum ersten Mal schreien. Mara tritt zurück, ihr Blut rauscht in den Ohren, denn sie weiß: Jede Revolution beginnt mit einem einzigen Akt der Rebellion.
Fazit
Als die Morgendämmerung die Chromtürme erhellt, hallen die ersten Erschütterungen systemischer Veränderung durch die leeren Registrierhallen. Dr. Mara Ellisons Tat entzündet eine Welle freier Geburten und enthüllt gefälschte Abschiede, die das unantastbare Kontobuch des Rates zerreißen. Bürger erkennen das einst ignorierte Paradox: Leben und Tod, Geburt und Abschied müssen ohne erzwungenen Tausch koexistieren, um wahrhaft menschlich zu bleiben. In den Straßen versammeln sich spontane Mahnwachen zu Ehren der Neugeborenen und der freiwilligen Freigebenden, die nun als Heldinnen und Helden gefeiert werden, statt als bloße Einträge im Register. Familien halten ihre Kinder ohne Angst um den Verlust, während Ältere ohne Unterschrift für ihr Ende zusammenkommen. Die Reclamation Front wandelt sich zur Bewegung für Selbstbestimmung, und Gesetze werden reformiert, um natürlichen Tod und Leben mit Würde zu respektieren statt durch Mechanik zu steuern. Die Welt steht am Abgrund eines neuen Gleichgewichts, geleitet von einer wiederentdeckten Ehrfurcht vor der stillen Kraft der Sterblichkeit und dem unerschlossenen Versprechen des Lebens. Und stets bleibt Mara bewusst, dass jeder Herzschlag eine Unterschrift ist – ein unersetzliches Zeugnis für die fragile Kunst des Menschseins.