Einführung
An der zerklüfteten Westküste Frankreichs, dort wo die Klippen der Bretagne auf den ungestümen Atlantik treffen, wandern Legenden mit dem Nebel, der über Heide und Moor zieht. Unter ihnen leuchtet eine Geschichte, die in jedem salzigen Windhauch mitschwingt: die Legende von Ys, der versunkenen Stadt, deren Türme und Kuppeln einst bis zum Himmel reichten. Man sagt, wenn der Wind gerade richtig heult, oder wenn sich die Flut ein wenig weiter zurückzieht als gewöhnlich, könne man das ferne Echo von Glocken und das Lachen eines verschwundenen Volkes hören, getragen von unter den Wellen. Einst, lange bevor Bretonisch an Land gesprochen wurde und die Wälder ungebrochen von der Küste bis ins Herz Galliens reichten, herrschte König Gradlon über ein Reich voller Schönheit und Gefahr. Die Küste, die er liebte, war wild und unzähmbar; Stürme konnten ganze Dörfer in einer einzigen Nacht verschlingen. Doch für seine geliebte Tochter Dahut träumte Gradlon von einer Stadt, die alle anderen überstrahlen sollte – einem Ort der Sicherheit und des Ruhms, erbaut unter dem Meeresspiegel in der glitzernden Bucht, geschützt von mächtigen Deichen und Toren, so kunstvoll wie die Sterne. So entstand Ys, Stein für Stein – ein Wunderwerk aus goldenen Türmen und paradiesischen Gärten. Das Volk blühte auf, Künstler und Dichter drängten sich auf den Märkten, während Schiffe aus fernen Ländern Seide und Gewürze an den geschützten Kais handelten. Doch Schönheit kann Stolz nähren, und Sicherheit macht den Geist träge. Während Ys immer wohlhabender wurde, drang Vergnügen in jede Halle und die Grenze zwischen Feier und Sünde verschwamm wie ein nebliger Morgen. Im Herzen der Stadt schwelgte Prinzessin Dahut in ihrer Macht, so schillernd und launisch wie das Meer. Ihr Charme zog Bewunderer aus allen Winkeln an und ihre Launen lenkten das Schicksal der Stadt auf eine Weise, die selbst ihr Vater nicht vorhersehen konnte. Die ganze Zeit über beobachtete das Meer schweigend. Denn das Meer, in der Bretagne, ist nie fern – und niemals wirklich gebannt. Das ist die Geschichte von Ys: einer Stadt von atemberaubender Schönheit und tragischem Schicksal, ein Juwel, das von den Fluten verschlungen wurde, und eine Warnung, die die Wellen noch immer flüstern – für jene, die am Rand der Welt zu lauschen wissen.
Die Erschaffung von Ys: Eine Stadt zwischen Land und Meer
Lange bevor es Ys gab, bestand die bretonische Küste aus Sümpfen, dunklen Wäldern und donnernder Brandung. König Gradlon, Abkömmling uralter Stammesführer und beseelt von einer Vision des Friedens, sehnte sich danach, sein Volk vor der Wut des wilden Meeres zu schützen. Er träumte von einer Stadt, die nicht nur den Gezeiten trotzen sollte, sondern sie umarmen – die Gefahr in Pracht verwandelnd. Mit Hilfe des weisen Mönchs Saint Guénolé, der beeindruckt von Engeln deren Baukunst gesehen haben wollte, begann Gradlon sein monumentales Werk. Gemeinsam holten sie Baumeister und Künstler aus aller Herren Länder. Riesige Deiche entstanden, so perfekt gefügt, dass weder Wind noch Welle einen Angriffspunkt fanden. Gewaltige Schleusentore wurden geschaffen, verziert mit Abbildungen von Delfinen, Seejungfrauen und Gestirnen. Ys sollte mehr sein als eine Festung – ein Wunder aus breiten Boulevards mit Birnbäumen, Gärten voller Veilchen und Rosen und Mosaiken, die in jeder Bogenhalle schimmerten. Im Hafen strahlten die Segel fremder Händler, in Schulen und Bibliotheken blühte neues Wissen aus aller Welt.

Doch die Stadt war auch ein Geschenk für Dahut, Gradlons einziges Kind. Die Menschen flüsterten, sie sei so schön wie Ys selbst – ihr Haar glänzte wie kupfernes Sonnenlicht, ihre Augen strahlten wie Regentropfen im Meer. Dahut wuchs – umgeben von Luxus und Bewunderung – auf. Jedes Fest, jeder Triumph wurde ihr zu Ehren gefeiert. Doch so stark die Mauern der Stadt auch waren, Dahuts unruhigen Geist konnten sie nicht bändigen. Sie begeisterte sich für Rätsel, verbotene Bücher und all die Möglichkeiten, die ihr der Nachtwind zuflüsterte.
Es war Dahut, die den Bau der Lustgärten und Maskenbälle beauftragte, die bis zum Morgengrauen andauerten. Ihr Hof zog Zauberer, Musiker und Dichter an, deren Verse die Grenzen zwischen Hingabe und Gotteslästerung ausloteten. Die Stimmung in der Stadt veränderte sich: Aus lebendiger Kreativität wurde Übermut, jede Feier prunkvoller als die davor. Manch einer nannte Dahut leichtsinnig; andere meinten, sie suche nur nach Sinn in einer zu perfekten Welt. Sie hinterließ gebrochene Herzen, flüchtige Liebschaften und Geschichten, die neidische Rivalinnen heimlich tuschelten. Dennoch vergötterte ihr Vater sie weiterhin – blind für die Strömungen unter der schillernden Oberfläche der Stadt.
Mit den Jahren vergaßen die Menschen von Ys ihre Abhängigkeit von den Deichen und die Weisheit des Saint Guénolé. Alte Rituale zu Ehren des Meeres hielten sie für Aberglauben. Die Priester der Stadt gingen im Lachen und Gesang unter – ihre Mahnungen zu Demut und Maß wurden ignoriert. Nacht für Nacht wurden Dahuts Feste ausschweifender, ihre Wünsche unberechenbarer. Sie suchte das Unerforschte, ging bei Mitternacht auf die Meermauern und trotzte dem Ozean mit Lachen und Lied. Ys, bei aller Schönheit, taumelte am Rand zwischen Zuflucht und Versuchung. Die Wellen leckten hungrig an ihren Toren, erinnerten sich an die Zeit vor Mauern und Wundern – als nur die Gezeiten über diesen Winkel der Welt herrschten.
Dahuts Fall: Versuchung und Schatten über Ys
Im Laufe der Jahre zog das strahlende Ys Fremde und Glücksritter aus allen Himmelsrichtungen an. Dahuts Ruhm wuchs und mit ihm ihre Gier nach immer größerem Vergnügen und neuen Rätseln. Jeder Maskenball übertraf den letzten – Böden aus poliertem Lapislazuli spiegelten Kerzenlicht wie Sterne und Musiker spielten Klänge, die fast überirdisch anmuteten. Dahut war schon zu Lebzeiten eine Legende geworden – ihre Schönheit nur noch von ihrer Unberechenbarkeit übertroffen. Bewunderer reisten aus aller Welt an: Fürsten aus Wales schenkten ihr Smaragde, Spielleute sangen Lieder aus Iberien, Mystiker in dunklen Gewändern warben um ihre Gunst. Doch niemand konnte ihren Hunger nach Neuem und nach Macht stillen.

Unter den Alten und Priestern der Stadt machten Gerüchte die Runde. Man sagte, Dahut habe sich von alten Bräuchen abgewandt; sie verkehre mit Zauberern und locke die Geister des Meeres selbst. Manche flüsterten, sie trage eine Maske aus Perle und Obsidian, die ihr Einblick in die Herzen der Menschen gewähre. Andere berichteten, sie veranstalte nächtliche Rituale mit Fackeln an den Meermauern, werfe Silber in die unruhigen Fluten, um geheimes Wissen zu erlangen.
In Wahrheit wurde Dahuts Faszination für das Verbotene zur Obsession. Sie genoss es, Herzen und Gedanken zu ihren Gunsten zu steuern. Geliebte wurden ebenso rasch fallen gelassen wie sie zuvor verzaubert worden waren; Rivalen brachte sie mit scharfer Zunge oder blendendem Können zu Fall. Die Feste in der Stadt nahmen einen dunkleren Klang an, getränkt von Neid und Maßlosigkeit. Die Schatten in den Marmorhallen wurden länger, das Lachen wich Geflüster. Die alte Priesterschaft, angeführt von Saint Guénolé, erkannte die Zeichen der Katastrophe – unzeitgemäße Stürme, Gezeiten, die jedes Frühjahr bedrohlicher kletterten, und Möwen, die selbst bei ruhigem Wetter unruhig über der Stadt kreisten.
König Gradlon, inzwischen von den Jahren gezeichnet, blickte schweren Herzens auf seine Tochter. Er erinnerte sich an eine Zeit, als Dahuts Lachen reine Freude war – keine Herausforderung an die Götter. Doch er brachte es nicht über sich, ihr etwas zu verwehren. Als sie ihn um den einzigen Schlüssel zu den großen Toren der Stadt bat – ein silbernes, von Saint Guénolé gesegnetes Kleinod – gab er nach, überzeugt von ihrer Unschuld. Dahut trug den Schlüssel an einer Kette um den Hals – sein Glanz wurde zum Symbol sowohl für ihre Macht als auch für ihre Einsamkeit.
In einer mondlosen Nacht, als selbst die ausgelassensten Gäste verstummt waren, erschien ein geheimnisvoller Fremder an Dahuts Seite. Er war groß, hüllte sich in einen Mantel so düster, als verschlänge er jedes Licht. Seine Augen brannten kalt und grün. Niemand hatte ihn ankommen sehen; niemand kannte seinen Namen. Doch Dahut war wie verzaubert. Der Fremde flüsterte Versprechen von ungeahnter Macht, von Genüssen, die Sterblichen verschlossen seien, von einer Freiheit, wie nur das Meer sie schenken könne. Er forderte sie auf, um Mitternacht die Tore zu öffnen – und zu sehen, ob Ys seinem Stolz überhaupt würdig sei.
Hin- und hergerissen zwischen Furcht und Verlockung zögerte Dahut. Doch die Stimme des Fremden war unwiderstehlich, seine Berührung so eiskalt wie das Meer selbst. Er legte seine Lippen an ihr Ohr – dann entschwand er in den Schatten, ließ Dahut zurück mit rasendem Herzen und aufgewühltem Geist. Der Schlüssel, plötzlich schwer auf ihrer Brust, schien mit eigenem Puls zu schlagen. Unten schlief die Stadt in unruhigem Frieden – ahnungslos, dass bald ein einziges Tun über Schicksal und Legende entscheiden würde: ein Dreh am Schloss, ein gebrochenes Versprechen, ein Mythos, der zur Wahrheit werden sollte.
Der Untergang von Ys: Als das Meer sich nimmt, was ihm gehört
Die Nacht, in der die Stadt Ys fiel, brachte kaum Vorzeichen. Ein dichter Nebel rollte vom Atlantik heran, dämpfte Glockenklänge und hüllte die Stadt in Schweigen. Dahut, mit klopfendem Herzen nach der Begegnung mit dem Fremden, streifte allein auf den Wehrmauern umher. Der Schlüssel an ihrem Hals wurde mit jedem Schritt kälter. Unten waren selbst die letzten Feste verklungen, nur das Echo fernen Lachens mischte sich mit dem Tosen der Wellen.

Zur festgesetzten Stunde – Mitternacht – stand Dahut vor den gewaltigen Toren, die das Meer zurückhielten. Des Fremden Worte klangen in ihrem Innern: „Öffne sie – und entdecke deine wahre Kraft.“ Nur einen Augenblick zögerte sie, dann steckte sie den Schlüssel ins uralte Schloss. Ein Klicken hallte wie Donner. Sie drehte ihn. Erst geschah nichts. Dann begann ein tiefes, drohendes Grollen von jenseits der Mauern – das Meer selbst erwachte.
Mit unbändiger Gewalt schoss das Wasser durch die geöffneten Tore. In wenigen Momenten wurden Straßen zu Kanälen, breite Boulevards zu reißenden Strömen. Panisch erwachten die Menschen – hörten das Kreischen des Wassers an den Steinen, das Bersten der Marktstände, das verzweifelte Rufen von Kindern in den Armen ihrer Mütter. In seinem Turm stürzte König Gradlon zu seiner Tochter, packte ihre Hand und rief nach seinem schnellsten Pferd. Mit Dahut vor sich ritt er in die Fluten, drängte das Tier dem rettenden Festland entgegen, während das Wasser die Stadt Straße um Straße verschlang.
Hinter ihnen zerfiel Ys: Kuppeln stürzten ein, Statuen brachen, Mosaike zersplitterten unter schwarzen Wellen. Der Fremde tauchte nochmals auf der höchsten Turmspitze auf – sein Lachen übertönte den Sturm. Manche sagen, sein Mantel entfaltete sich wie mächtige Schwingen, andere, er verschwände einfach im Nebel. Doch sein Werk war vollendet.
Gradlon und Dahut ritten durch das tobende Wasser, Saint Guénolé wies ihnen den einzigen verbleibenden Weg – den schmalen Damm zum Festland. Doch das Wasser stieg schneller, als jedes Ross galoppieren konnte. Da rief Saint Guénolé mit letzter Kraft: „Lass los! Stoße das Werkzeug des Unheils fort!“ Gradlon, hin- und hergerissen zwischen Liebe und Verantwortung, zögerte. Dahut klammerte sich angstvoll an ihn. Noch höher stieg das Wasser. In einem Aufschrei riss Gradlon Dahut von seinem Sattel und warf sie in die Wellen.
Kaum war sie versunken, beruhigte sich das Meer, als sei es zufrieden. Gradlon erreichte das Land – allein, gebrochen und für immer verändert. Hinter ihm verschwand Ys unter den Fluten, seine Türme und Gärten wurden vom Atlantik verschlungen. Nur ein paar Trümmer trieben im dunklen Wasser. Am nächsten Morgen ging die Sonne über einer leeren Bucht auf – die Stadt war fort.
Doch an manchen Nächten, wenn der Mond hoch steht und die Gezeiten seltsam sind, sagen Fischer, sie sähen unter Wasser Türme glänzen. Manche wollen Glockenklänge aus der Tiefe hören und eine Gestalt – Dahut selbst – sehe man, durch die Wasser wandelnd, in Reue oder Trotz. Ys wurde zur Legende von Hochmut und Strafe, doch auch von Schönheit und Verlust – eine Mahnung, dass selbst das Größte von Kräften hinweggerissen werden kann, die älter und tiefer sind als jeder König oder jede Prinzessin.
Schlusswort
Ys ist heute verschwunden – vom Meer verschluckt, ihre Schätze unter Jahrhunderten von Schlick und Erinnerung begraben. Doch entlang der wilden Küste der Bretagne lebt die Legende fort, eingewoben in jeden Windstoß und jedes Schweigen vor dem Sturm. Noch immer legen Kinder das Ohr an Muscheln, hoffen, ein fernes Glockenspiel oder Dahuts klagenden Gesang aus der Tiefe zu hören. Die Lehre dieser Geschichte ist so tief wie das Meer selbst: Schönheit und Glanz brauchen Demut, und Stolz und Übermut rufen das Unheil so sicher herbei wie Ebbe die Flut. Dennoch tröstet uns das Schicksal von Ys – es erinnert daran, dass nichts wirklich verloren ist, solange Geschichten erzählt werden. Die Stadt unter den Wellen wird so zum Spiegel für unsere eigenen Sehnsüchte und Ängste, für alles, was wir erschaffen und was wir riskieren, wenn wir unsere Stellung in der Welt vergessen. Solange die Küsten der Bretagne bestehen und der Atlantik an die Klippen rauscht, wird auch die Legende von Ys immer wieder an die Oberfläche steigen: ein Gleichnis von Pracht, Übermut – und dem ewigen Tanz zwischen Land und Meer.