Einführung
Unter einem schweren Himmel aus sturmgrauen Wolken erhebt sich das uralte Königreich Florin, dessen Türme und Festungsmauern im Nebel und Schatten verschwinden. In der großen Halle des Königspalastes lastet erwartungsvolle Stille auf dem Marmorboden, während Höflinge sich versammeln, um die lang ersehnte Taufe von Prinzessin Seraphine zu feiern. Seidentapisserien flimmern an den Wänden und erzählen von siegreichen Rittern und weisen Monarchen. Kristallkronleuchter über dem Saal brechen das Licht und lassen es über vergoldete Säulen tanzen, während der süße Duft blühender Rosen durch die gewölbten Fenster weht.
Doch unter diesem festlichen Schauspiel zieht sich eine unheimliche Spannung zusammen: Die boshafte Fee Morgause kommt unverhofft, ihre Gewänder wehen wie tintenschwarzer Rauch, und spricht einen Fluch über das neugeborene Kind: „Mit sechzehn Jahren wird sich die Prinzessin an der Spindel einer Spinnradnadel stechen und in einen ewigen Schlaf fallen, aus dem kein menschlicher Kuss sie erwecken kann, außer aus wahrer Liebe.“ Ein entsetztes Keuchen geht durch die Menge, als tiefe Stille wie ein fallender Vorhang eintritt. Die wohlwollenden Feen lehnen sich vor, ihre Herzen schlagen rasend, und sie flehen Morgause um Gnade an. Doch sie gewährt nur einen einzigen Hoffnungsschimmer:
„Ein Jahrhundert der Schlummer muss vergehen, ehe der Mut reiner Liebe diesen finsteren Zauber brechen kann.“
Draußen schießen Dornenbüsche und verdrehte Ranken empor und versiegeln den Palast gegen die Welt. Unwissend gurrt die kleine Prinzessin leise vor sich hin, ihre winzigen Händchen in friedlichem Schlummer gefaltet. So beginnt die Geschichte eines Königreichs, das in der Zeit verharrt und auf den Tag wartet, an dem das Licht der Liebe die Schatten vertreiben und das Herz erwecken wird, das unter dem verfluchten Schlag schlummert.
Der Hexenfluch und die wachsenden Dornenranken
Von dem Augenblick an, in dem Morgauses Worte verhallt waren, breitete sich Furcht im Hof wie eine dunkle Flut aus. Höflinge eilten umher, um jedes Spinnrad zu schmelzen oder zu verstecken, während Schmiede die Räder zerlegten und ihre Metallspindeln einschmolzen. Der König befahl, alle Gärten von Dornenschneidern befreien zu lassen, doch jeder Astschnitt brachte zwei neue Ranken zum Vorschein. Im Laufe von Monaten verdickte sich das verzauberte Dornengestrüpp, gerade Stängel umrankten die Außenmauern wie Pfeile, und jedes Tor verklemmte sich unter Dornen, die ein schwaches, unheiliges Licht ausstrahlten.
Prinzessin Seraphine wuchs unter der liebevollen Obhut ihrer Gouvernante heran, gesund an Leib und Auge, bis zur Schwelle ihres sechzehnten Geburtstags. Obwohl sie die Lehre von Heilkräutern, höfische Etikette und die Lektionen der Staatskunst erhielt, träumte ihr Geist stets von Freiheit und der Entdeckung der verborgenen Korridore der Stammburg. Viele Nachmittage verbrachte sie unter bunten Glasfenstern, strich mit ihren Fingern über das steinerne Sims und träumte von Welten jenseits des Dornenvorhangs.
Als ihr sechzehnter Geburtstag anbrach, lag der Palast in vollkommener Stille. Ein kleiner Tisch, auf dem nichts weiter stand als eine einzelne Spindel, war in den obersten Turm getragen und unbeaufsichtigt zurückgelassen worden. Von Neugier und einem leisen Summen alter Handwerkskunst getrieben, folgte Seraphine dem spiralförmigen Treppenaufgang. Jeder Schritt hallte wie eine Glocke. Im Halbdunkel der Türmchenkammer erblickte sie die Spindel: feines Holz, von elfenbeinernen Händen gedrechselt, mit einem Stahlblitz an der Spitze. Ein Hauch von Berührung reichte aus, um eine scharfe Nadelstich in ihre empfindliche Haut zu treiben.
Sofort verschwamm ihre Sicht. Seraphine sank auf die Knie, als sich der Boden ihr entgegenhob. Die letzten menschlichen Laute wehten durch das offene Fenster – ihr eigener leiser Schrei, das ferne Rauschen des Windes. Dann wurde alles dunkel. Sie lag auf einem seidenen Kissen, die Augen geschlossen, das Herz reglos, als hätte die Essenz ihres Lebens sich in einem leisen Seufzer entschlichen.
Ein Hauch von Magie erfasste das Königreich. Die Dornen, die einst die Zinnen durchzogen, rankten nun höher, ihre Spitzen sickerte Harz aus, das unter dem Mondlicht glühte. In den Gemächern des Palastes flammte jede Fackel mit gespenstischem Blau. Diener zogen sich in Schatten zurück, gebunden an einen Zauber, dem kein Sterblicher zu trotzen vermochte. In dieser erstarrten Stunde hielt das Reich den Atem an, und die Legende von Dornröschen war in Dornen und Schweigen versiegelt.
Hundert Jahre des stillen Wachens
Jahrhunderte vergingen im Fluge des Schicksals. Die Burg Florin wurde zur Geschichte, die man im Flüsterton erzählte, zum Schlaflied, das Kindern als Warnung vor Hochmut und Neugier vorgesungen wurde. Jenseits der Dornmauer wuchsen die Wälder, Flüsse änderten ihren Lauf, Dörfer entstanden und vergingen. Die Erinnerung an die schlafende Prinzessin verhallte zur Hälfte als Mythos, zur Hälfte als Wiegenlied, bis Historiker darüber stritten, ob Seraphine jemals existiert hatte.
Drinnen aber bewegte sich die Zeit in Staubkörnchen und Mondstrahlen. Die große Halle, einst erfüllt von Musik und Gelächter, lag unter einem Schleier aus Spinnweben. Die Tapisserien hingen schlaff von den Wänden, ihre einst leuchtenden Farben waren verblasst. Die goldene Harfe auf der Bühne hatte eine Saite verloren, und der Königsthron war mit Moos überwuchert. Doch im obersten Turm, bei Mondlicht und Zauberkraft, stand inmitten alles Verfalls eine Wiege unberührt, als wäre sie von unsichtbaren Händen behütet. Darin lag Seraphine, ungestört, ihre Brust hob und senkte sich im sanften Rhythmus eines Traums.
Legenden versammelten sich an den Toren. Ritter, die Ruhm suchten, hackten mit Stahlklingen auf die Dornen ein, nur um zu sehen, wie ihre Schwerter im ätzenden Harz zerflossen. Gelehrte reisten aus fernen Landen an, um die Silhouette der Burg zu skizzieren und die Prophezeiung festzuhalten, dass der Kuss wahrer Liebe den Bann brechen würde. Barden komponierten Balladen, die in Tavernen aufblühten und bei Tagesanbruch wieder versiegten.
In einem stillen Zeitalter fand ein Eremit mit weißem Haupthaar einen Pfad durch die Ranken. Anhand alter Runen und Erzählungen von Mönchen entdeckte er eine verborgene Treppe, die unter der Wurzel einer heiligen Eiche hinabführte. Bei Kerzenlicht erreichte er den Turm und kniete sich neben Seraphine nieder. Doch die magischen Schichten waren durch tiefere Zauber versiegelt: Der weise Kuss des Eremiten erweckte nichts als Kummer, und Tränen rann über ihre regungslose Wange. Er verließ die Kammer mit gesenktem Haupt, die Prophezeiung war unerfüllt, und die Dornen nahmen ihre stille Wache wieder auf.
So schlummerte die Burg weiter. Die Jahreszeiten wirbelten wie tanzende Schemen – Winterfrost in Asche, die hellen Vorboten des Frühlings, der schwüle Dunst des Sommers und das stetig fallende Herbstlaub. Alle fühlten die Schwere eines nicht eingelösten Versprechens, doch niemand wagte zu hoffen, bis ein Fremder hoch zu Ross das Dornentor erreichte–
Der Prinz und die Dämmerung der Erneuerung
Prinz Lucien kam in mattgescheuerter Rüstung und Augen, die vor Entschlossenheit funkelten. Er hatte die alten Geschichten studiert, den verstreuten Aufzeichnungen des Eremiten gefolgt und an die Reinheit seines Herzens geglaubt. Als der Morgen in das Tal brach, stand er vor dem Labyrinth aus lebendigem Stahl. Mit jedem Schwung seines Schwerts sprach er ein Gelübde der Hingabe, und jeder tropfende, geschmolzene Dorn zischte unter der Sonne zu Dampf.
Zur Mittagsstunde erreichte er die Turmtür, die unter seinen Schlägen zwar zerschlagen, aber dennoch unzerbrochen war. Prinz Lucien legte die Hand auf die Lilien- und Sternschnitzereien und flüsterte die überlieferten Worte:
„Wahrer Liebe Glaube soll die Nacht zerschneiden und die gefangene Seele ins Licht führen.“
Die Tür knarrte und gab nach, öffnete den kleinen Raum, in dem Seraphine auf einem Samtkissen lag. Silbernes Haar fächerte sich wie ein Heiligenschein um sie, und ihr Antlitz war unberührt von der Zeit.
Er kniete neben ihr nieder, strich eine lose Strähne aus ihrer Stirn und hauchte einen sanften Kuss auf ihre Lippen. Für einen Augenblick, der scheinbar ewig währte, hielt die Welt den Atem an. Dann – und nur dann – löste sich der Fluch in einem Strom goldenen Lichts auf. Seraphines Wimpern bebten, Farbe stieg in ihre Wangen, und ihre Lungen zogen Atem, der nach Sonne und Hoffnung duftete.
Draußen welkten die Dornen und verwandelten sich in Asche. Im Hof begann das Rosengewässer wieder zu blühen. Nachricht verbreitete sich durchs Land wie eine Symphonie. Höflinge, die längst verstaubt waren, erschienen als schemenhafte Erinnerungen ihrer einstigen Pracht, als sich die Erinnerung im Festsaal wieder zusammensetzte. Als Seraphine an Luciens Arm den Saal betrat, erblickte sie eine neu erwachte Welt. Ihre Augen, weit vor Staunen, trafen die seinen. Es war der Moment, in dem die Zeit stehen blieb –
Schluss
Als Seraphine den Balkon betrat, wurde sie von einem Chor von Vögeln begrüßt, deren Gesang durch die neu erwachten Gärten in jede Ecke des Reiches klang. König und Königin nahmen ihre Tochter mit Freudentränen in die Arme, und die Feen materialisierten sich, um den Hof mit Blütenblättern zu überhäufen, die wie Sternenstaub funkelten. Doch mehr als alles andere war es Luciens fester Griff und sein unbeirrbares Gelübde, das aus Legende lebendige Wirklichkeit werden ließ.
In den folgenden Tagen wurde die Burg Stück für Stück restauriert: zerbrochene Fenster ersetzt durch Kristallglas, morsche Balken erneuert von Meistertischlern und Gärten mit Samen aus allen Himmelsrichtungen neu bepflanzt. Seraphine und Lucien durchschritten Seite an Seite die Hallen, ihr Lachen war ein Versprechen, dass kein Dunkel jemals wieder das Königreich fordern könnte. Und an mondhellen Abenden erzählten sie die Geschichte neuen Generationen, damit die Lehre lebendig bleibt: Selbst der tiefste Fluch kann der Liebe, die niemals aufgibt, nicht widerstehen.