Einleitung
Jeden Frühling, wenn das Eis auf dem Dvina-Fluss unter der blassen Sonne weich wurde und Risse bekam, regte sich im Dorf Berezovka eine erwartungsvolle Unruhe. Die Bauern beobachteten, wie das Tauwasser über staubige Wege in matschige Felder floss und dort wie verstreute Juwelen Pfützen bildete. Ein anhaltendes Schweigen legte sich über die Morgendämmerung, bis die große Tauwelle die Wasserwege in Bewegung setzte, die Luft mit der Verheißung von Erneuerung füllte und in der Ferne das Donnern strömender Fluten anschwellen ließ. In einer verwitterten Hütte unter einem Baldachin aus Birken erwachte die sechzehnjährige Katya jeden Morgen zum Tropfen der schmelzenden Eiszapfen und zum leisen Lachen der Kinder, die Frösche am Ufer jagten. Am gegenüberliegenden Ufer lag Nikolai, frisch von der Nachbarfarm zurückgekehrt, schlaflos auf seiner strohgefüllten Matratze und verfolgte durch ein schmales Fenster mit seinem Blick den Himmel, während goldenes Licht auf den Holzboden fiel. Keiner von beiden ahnte an jenem ersten Morgen, dass ihre Welten bald mit der Wucht von treibenden Eisschollen auf eine brüchige Uferböschung treffen würden. Doch während Katya einen Krug Milch zum Handelsposten trug und Nikolai sein Pferd über einen gewundenen Pfad führte, schwebte etwas Ungesagtes zwischen ihnen – eine Strömung der Neugier, ein stiller Puls, der ihre Atemzüge beschleunigte. Ihre Blicke trafen sich über gestapelter Butter und Roggenlaiben, und in diesem flüchtigen Augenblick spürten beide, wie die Kraft des Flusses in ihren Herzen widerhallte. Unter aufgeschwollenen Weiden sprachen sie über nichts Großes – der Duft von Kiefern, die Farbe des Sonnenaufgangs, die Sanftheit ihrer Lächeln – doch jedes Wort bebte vor neuer Wärme. Das Universum schien sich auf einen einzigen Funken zu verengen, als Wasser und Himmel am Horizont verschmolzen, und in diesem Funken glitzerte das Versprechen der ersten Liebe, zerbrechlich wie schmelzender Reif auf Birkenrinde. Und als sie sich im fahlen Dämmerlicht trennten, konnte keiner ahnen, wie rasch die Frühjahrsschmelze zwei Herzen, so roh vor Sehnsucht, vereinen und zugleich entfremden würde.
Der erste Tau
An den frühen Frühlingstagen begann das riesige Fluss-Eis unter der schüchternen Morgensonne zu seufzen und in zahllosen Rissen zu brechen, die wie funkelnde Spuren eines gesprungenen Spiegels glitzerten.

Katya stand am weichen Ufer, ihr Wollrock war am Saum feucht, und beobachtete, wie die ersten Eissplitter stromabwärts glitten, als wären es schimmernde Fragmente eines zerbrochenen Spiegels. Nikolai tauchte an der alten Holzbrücke hinter dem Weidensömmchen auf, seine Lederstiefel hinterließen schlammige Abdrücke auf den Bohlen, während er sich näherte. Er trug einen Beutel getrockneter Kräuter bei sich, die er aus der Speisekammer seiner Mutter entwendet hatte – Kamille für fiebernde Nachbarn, Minze für den Brotteig – doch keiner dieser vertrauten Düfte blieb ihm in der Nase. Stattdessen erfüllte der scharfe, kalte Hauch des tauenden Flusses seine Lungen, wild und drängend.
Sie sprachen ohne Zeremonie. Katya bot Nikolai ein Band an, das sie von den Bändern ihrer Schürze gelöst hatte, um den Riss an ihrem hölzernen Butterfass zu schließen. Als seine Finger die ihren streiften, verspürten beide ein Zittern, das der Winterstille fremd war. Er kniete nieder, legte das Band über das gespaltene Holz und sicherte es mit einem Knoten, so geschickt wie ein Gebet.
Um sie herum donnerte der Fluss durch offene Wasserläufe, Eistränen webten Muster auf der Wasseroberfläche. Krokusblüten, gerade erst aus dem Boden gedrungen, zitterten am Ufer, als streckten sie sich nach einer Wärme, die noch fern war. Als Katya sich schließlich umdrehte, um zu gehen, stand Nikolai bereits an ihrer Seite, gefangen in derselben unmöglichen Stille voll Hoffnung und Ungewissheit.
In den folgenden Tagen trafen sie sich am Flussufer: er mit seidigen Schachtelhalmbändern im Haar, sie mit Heidekraut in ihrem Zopf. Ihre Hände berührten die Bohlen des Handelspostens und unter den Seilen eines wartenden Lastkahns. Das Schweigen des Winters blieb in ihren Herzen, während die Welt um sie herum von Licht und Lachen überflutet wurde.
Jedes Mal, wenn Katya lachte, schien der Fluss in Antwort aufzuwallen, als würde die Natur selbst zustimmen. Und jedes Mal, wenn Nikolai ihren Namen sprach, stoben die Möwen über dem Ufer in weiten Kreisen und riefen ihre Feste. In jenen Augenblicken schien das Dorf ganz zu verschwinden, übrig blieben nur die Flut des Flusses und der sanfte, donnernde Puls zweier junger Seelen, die die Liebe in ihrer reinsten, verletzlichsten Form entdeckten.
Blüten auf der Strömung
Wochen vergingen, und das Rauschen des Flusses verlor sich in ein Flüstern, eingebettet in ein Blütenmeer, das jeden Zaun und jede Hecke vergoldete. Kirschblüten tanzten im Wind wie sanfter Schnee und legten sich wie Teppiche auf die schmalen Pfade, die durch das bescheidene Dorf führten. Katya sammelte Handvoll dieser Blüten und presste sie zwischen die Seiten eines verblichenen Gebetbuchs, um jede zarte Falte und ihren Duft zu bewahren. Nichts war ihr je so kostbar erschienen.

Nikolai beobachtete sie, während er seine Stute an einem tief herabhängenden Weidenzweig festband. Die Stute scharrte ungeduldig mit den Hufen, ihre Nüstern bebten im Atem des Fohlens, doch er regte sich nicht, bis Katya sich umdrehte und ihre Blicke sich trafen. Sie lächelte und bot ihm eine einzelne gezuckerte Blüte aus ihrer Schürzentasche an. Höflicher, als er es je gelernt hatte, neigte er sich leicht, nahm das Blümchen und ließ den Zucker auf der Zunge zergehen, als koste er die Süße ihrer Gegenwart.
Am Abend flackerten Laternen auf hölzernen Pfählen entlang des Ufers und warfen tanzende Mondscheinkreise auf die Wasseroberfläche. Die Dorfbewohner hielten für einen Moment ihre Arbeiten an, grüßten sich mit höflichem Nicken, doch ihr Blick haftete auf dem jungen Paar, das Hand in Hand dahinspazierte. Zusammen erkundeten Katya und Nikolai krumme Stege und hielten an jedem flacheren Becken an, um das klare Wasser zu betrachten und wilde Erdbeeren zu naschen, die in Büscheln zwischen den Steinen wuchsen.
Sie sprachen von einer Zukunft, die noch halb geformt war: ein gemeinsames Häuschen am Wasser, eine Bank unter einem blühenden Obstgarten, das Lachen von Kindern im Sommerwind. Ihre Stimmen schwankten zwischen Gewissheit und Staunen, als fürchteten sie, zu laut zu sprechen, aus Angst, der Moment könnte zerplatzen.
In einer mondhellen Nacht, als sich Nebel wie Seide über die Ufer legte, lagen sie auf einer Grasfläche und zeichneten mit zitternden Fingern Sternbilder nach. Weniger als zwei Wochen zuvor noch Eis, funkelte der Fluss nun wie ein Glasband im Laternenlicht. Ihr erster Kuss schmeckte nach Kirschblüten und nach dem Versprechen von etwas Unermesslichem und Unbekanntem.
Doch selbst als ihre Herzen vor Hoffnung überquollen, spürte Katya einen Sog der Vergänglichkeit. Jede Blüte würde verblassen, jedes Blatt zu Boden sinken, und obwohl die Liebe in dieser strahlenden Stunde unendlich schien, wusste sie, dass das Leben sie mit unbarmherziger Geschwindigkeit weitertragen würde.
Wenn die Wasser zurückweichen
Der Sommer schlich auf leisen Flügeln heran, schenkte wärmere Tage und das sanfte Rascheln der Schilfhalme, die schwer von Samen waren. Die Ufer zogen sich zurück und legten matschige Flächen frei, und Steine, einst unter Eis verborgen, glänzten unter dem azurblauen Himmel. Doch die Liebenden fanden sich auf getrennten Pfaden wieder. Nikolais Familie bereitete sich darauf vor, flussaufwärts in fruchtbarere Gefilde zu ziehen, und Katyas Vater drängte sie, vor der Ernte im Haushalt zu helfen.

Sie trafen sich seltener, die Begrüßungen wurden knapper, die gestohlenen Blicke schärfer als die letzte Eisscholle, die die Sonne verschlungen hatte. Selbst der Fluss schien ihre schwindende Zuneigung zu beklagen, seine Wasser zogen ruhig und trübsinnig dahin, statt mit Blütenblättern zu tanzen. Dieselben Weiden, die einst Schatten für ihr Lachen gespendet hatten, flüsterten nun, ihre Zweige gebeugt im Vorahnen des Abschieds.
Am Vorabend der Abreise flocht Katya einen Kranz aus Sumpfrosen und Holunderblüten, jede Blüte zu einer zerbrechlichen Krone verwoben. Sie setzte ihn Nikolais dunkles Haar, während er neben einem beladenen Wagen stand, die Pferde mit stampfenden Hufen und schnaufend im eintretenden Zwielicht. Er ergriff ihre Hände mit zitternder Dringlichkeit, als bitte er die Welt um einen Augenblick des Innehaltens, doch die große Strömung des Lebens trennte sie unerbittlich.
Noch vor der Morgendämmerung rollte der Wagen davon, seine Räder zogen Furchen in die feuchte Erde, die vom Tau glänzte. Katya lief zur Furt am Fluss, rief seinen Namen, bis ihre Stimme heiser und rau war. Er stand im Schein der mitgenommenen Wagenlaterne, die Augen vom uns vergossenen Tränenfunkeln, und hob ihr den Kranz noch einmal entgegen.
Als der Wagen um die Biegung am gegenüberliegenden Ufer bog, tauchte der erste Lichtschimmer des Sonnenaufgangs den Himmel in goldene und rosafarbene Bänder. Der Fluss lag ruhig zwischen den Ufern, ein sanfter Graben, wo einst ein reißender Strom tobte. Katya sank auf die Knie und ließ die Tränen frei fließen, jede fiel in ihre offene Hand wie ein einzelnes, perfektes Blütenblatt.
Die Wasser trugen ihre Trauer stromabwärts, zugleich aber auch die Erinnerung an die Intensität der Liebe – leuchtend und flüchtig wie eine Blüte, die auf der Strömung treibt.
Schluss
Die Jahreszeiten drehten sich wie eh und je, und der Fluss fand zurück in seinen vertrauten Rhythmus, kräuselnd über glatte Steine. In Berezovka wurde die Erinnerung an Katyas und Nikolais kurze Romanze zu einem kostbaren Flüstern unter den Ältesten, einer Geschichte, die bei Erntedankfesten erzählt wurde, wenn das Lachen unter einem Himmel hungriger Sterne erklang. Katya bestickte in den folgenden Jahren jeden Saum mit kleinen Blüten, jedes Blütenblatt ein Zeugnis von der Süße und dem Schmerz der ersten Liebe. Nikolai drückte Holunderblüten-Bouquets zwischen die Bohlen des Umzugswagens seiner Familie und schickte ihren Duft wie ein Echo über jeden seiner Wege.
Manchmal, wenn im ersten Tau des Frühlings der Wind gerade richtig stand, schwärmten die Nachbarn, man könne das Lachen vom Flussufer her wehen hören, und sie lächelten wissend. Unter den Weiden, lange nachdem die Kränze verwelkt und das Holz unter ihren Füßen fest geworden war, trug der Ort ihrer Begegnung noch den leisesten Abdruck zweier Herzen, die in einem einzigen, leuchtenden Moment verbunden waren. Und in diesem Echo rauschender Fluten erinnerte das Leben alle, die lauschten, daran, dass die Liebe, so vergänglich sie auch sein mag, einen Weg schneidet, so tief und beständig wie Wasser, das über Stein fließt.